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Der Weg zu mir selbst – Mein Coming-out

Moderator
Apr.
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YoungPride Moderator 50-Beiträge Discordianer 007-Beiträge
Ich weiß nicht genau, wann ich es das erste Mal gespürt habe – vielleicht mit elf. Es war so ein vages Gefühl, das ich selbst nicht greifen konnte, aber es war da. Ich stand auf Jungs. Irgendwo in mir wusste ich es. Und gleichzeitig wollte ich es nicht wissen. Ich hatte in meiner Kindheit niemanden um mich herum, der schwul war. Keine Vorbilder, keine Orientierung, nur dieses dumpfe Gefühl, dass es „nicht normal“ sei. Ich habe es lange als etwas empfunden, das ich verbergen muss. Etwas, das nicht sein darf.

Also habe ich es verdrängt. Jahrelang.
Ich sagte mir: Das ist nur eine Phase.
Ich redete mir ein: Vielleicht bist du einfach bisexuell.
Das klang… einfacher. Sicherer. Nicht ganz so „anders“. Halb schwul fühlte sich irgendwie weniger angsteinflößend an als ganz.

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, der alles veränderte. Ich war gerade auf dem Heimweg, als ich mit meinem besten Freund Ju – also Julian – über WhatsApp schrieb. Ju war für mich immer wie ein sicherer Hafen. Wir verstanden uns blind, und als pansexueller Mensch hatte er ein tiefes Verständnis für Themen, mit denen ich innerlich so lange gerungen hatte. Irgendwann schrieb ich ihm einfach:
„Ich glaube, ich bin bisexuell.“

Es war das erste Mal, dass ich diesen Satz überhaupt jemandem gesagt habe. Jahrelang hatte ich geschwiegen, mich verstellt, so getan, als wäre da nichts. Und jetzt war er einfach raus. Ju antwortete nur:
„Ich weiß.“

Ich war total überrascht. Ich fragte ihn, woher er das wisse, und er meinte nur:
„Ich merke es dir einfach an.“

Ich bat ihn, es erst mal für sich zu behalten – was er auch tat. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.
Warum ich mich als bi geoutet habe, weiß ich bis heute nicht genau. Ich stand nie wirklich auf Frauen. Vielleicht war es einfach mein Versuch, es mir selbst leichter zu machen. Ein Zwischenschritt. Nicht gleich mit der ganzen Wahrheit rausplatzen, sondern erst mal einen kleinen Teil zeigen. Nicht gleich alles von mir preisgeben.

Ein paar Tage später traf sich unsere Freundesgruppe bei einer Karaokeparty. Es war ein bunter Haufen – Ju, Pascal (bisexuell), Lisa (lesbisch) und eine neue Person, die ich noch nie gesehen hatte: Justin. Er war der Cousin von Lisa, und wie ich später erfuhr, auch schwul. Seine Mutter war übrigens ebenfalls lesbisch – irgendwie fühlte sich das plötzlich alles so offen, so normal an. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein.

Justin und ich kamen schnell ins Gespräch. Draußen, etwas abseits von der Musik und den Lichtern, traute ich mich, ihn um Rat zu fragen – und mich ihm anzuvertrauen. Ich sagte ihm, dass ich auf Jungs stehe. Zum ersten Mal sprach ich es laut aus, von Angesicht zu Angesicht. Und es war so viel schwerer als über WhatsApp.

Mir kamen die Tränen.

All der Druck, all die Jahre der Unsicherheit, der Angst, der Selbstablehnung – sie brachen einfach aus mir heraus. Aber Justin war da. Er hörte zu. Er nahm mich in den Arm. Und in diesem Moment fühlte ich mich zum ersten Mal gesehen – wirklich gesehen.

Am nächsten Morgen entschloss ich mich zu einem weiteren Schritt: Ich schrieb eine Nachricht in unsere WhatsApp-Gruppe „Second Family“, in der wir alle drin waren. Ich outete mich auch dort – und wieder war es, als würde ein Stein von meiner Brust fallen. Die Reaktionen? Liebevoll, bestärkend, vollkommen unterstützend. Es war der erste Moment in meinem Leben, in dem ich dachte: Vielleicht ist es doch okay, so zu sein, wie ich bin.

Ein paar Monate später entwickelte sich zwischen Justin und mir mehr. Unsere Freundschaft wurde zu einer Beziehung. Für eine Weile waren wir ein Paar – und es fühlte sich so richtig an. So ehrlich. Auch wenn es irgendwann nicht mehr hielt, war diese Zeit unglaublich wichtig für mich. Es war der Anfang eines Lebens, in dem ich endlich zu mir stehen konnte.

Doch ein Schritt stand mir noch bevor. Ein Schritt, der mir vielleicht am meisten Angst machte: meine Familie.

Etwa ein halbes Jahr nach meinem ersten Outing fuhr ich übers Wochenende in meine Heimat – nicht allein. Ich sagte meiner Mutter, ein Freund würde mitkommen, weil er sich die Gegend anschauen wolle. Was ich ihr nicht sagte: Justin war mein Beziehungspartner.

Am Abend standen wir auf dem Balkon, und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Schließlich sagte ich es:
„Mama… er ist nicht nur ein Freund. Er ist mein fester Freund.“

Sie schwieg. Schaute mich an. Tränen stiegen ihr in die Augen – und ich verstand es falsch. Ich ging in mein Zimmer, mein Kopf voller Gedanken. Justin war schon eingeschlafen, er hatte einen langen Tag hinter sich.

Ein paar Minuten später öffnete sich meine Tür. Meine Mutter kam herein, setzte sich zu mir und sagte:
„Es ist okay für mich. Ich will nur, dass du glücklich bist.“

Sie erklärte mir, dass die Tränen von vorhin nicht wegen mir gekommen waren – oder wegen Justin. Es war alles einfach zu viel. Die Beerdigung meiner Großtante, die Probleme in ihrer Beziehung… und dann kam auch noch das Outing ihres Sohnes. Es war ein emotionaler Overload – aber sie meinte es ernst, als sie sagte, dass sie mich liebt. Dass sie mich unterstützt.

Ich werde diesen Moment nie vergessen. Er war nicht perfekt – aber er war echt. Und voller Liebe.
Mein Vater hingegen… das war eine andere Geschichte.

Er lebt in den USA. Ich hatte keine andere Möglichkeit, als ihm per WhatsApp zu schreiben. Ich versuchte, die richtigen Worte zu finden – aber ganz gleich, wie ich es formulierte: Seine Reaktion war kalt, hart, ablehnend. Von einem Tag auf den anderen drehte er mir den Geldhahn zu.

Bis dahin war ich verwöhnt gewesen – Rolex, Markenklamotten, all das. Ich war ein "Richkid". Und plötzlich stand ich da, mit meinem Azubi-Gehalt – ohne Unterstützung, ohne Sicherheit, ohne das gewohnte Luxusleben.
Ich bin hart auf dem Boden der Realität gelandet.

Heute habe ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater – aus verschiedenen Gründen. Er hat mittlerweile versucht, den Kontakt wieder aufzunehmen, aber ich habe für mich entschieden: Nein. Nicht so. Nicht mehr. Vielleicht irgendwann, vielleicht auch nie.

Was ich aber heute weiß, ist: Ich bin nicht bisexuell. Ich bin schwul.
Und das ist kein Makel. Kein Fehler. Kein Grund, sich zu verstecken.
Es ist ein Teil von mir. Und ich habe aufgehört, ihn zu leugnen.
Ich bin ehrlich zu mir. Und ich bin stolz darauf.

Wenn ich zurückblicke auf den kleinen Jungen, der ich mit elf war – voller Angst, voller Fragen – dann würde ich ihm heute gern sagen:
„Es wird okay. Du wirst Menschen finden, die dich lieben. Du wirst dich selbst finden. Und du wirst lernen, stolz zu sein.“
 
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