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Kommentar zur Wahlrechtsreform, Verkleinerung des Bundestags und dem Paradox der nicht gewählten Wahlkreisgewinner
I. Einleitung
Die Bundestagswahl ist das zentrale Instrument demokratischer Repräsentation in Deutschland. Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen mit ihrer Stimme, wer in den Bundestag einzieht und damit an der Gesetzgebung der Bundesrepublik mitwirkt. Doch das Wahlsystem ist komplex – zu komplex, wie Kritiker seit Langem bemängeln. Mit der Reform des Bundeswahlrechts 2023 wurden einschneidende Änderungen vorgenommen, um den stetig wachsenden Bundestag zu verkleinern. In der Folge kam es bei der jüngsten Bundestagswahl 2025 zu einem demokratietheoretisch wie verfassungsrechtlich brisanten Phänomen: Direktkandidaten, die ihre Wahlkreise gewannen, zogen dennoch nicht in den Bundestag ein.
II. Das bisherige Wahlsystem – Eine kurze Rekapitulation und das Problem
Nach dem bis 2023 geltenden System war der Bundestag ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Die Wählerinnen und Wähler hatten zwei Stimmen:
1. Die Erststimme für einen Direktkandidaten im Wahlkreis. Wer hier die relative Mehrheit erhielt, gewann das Direktmandat und zog sicher in den Bundestag ein.
2. Die Zweitstimme für eine Landesliste einer Partei. Diese bestimmte die proportionale Sitzverteilung im Bundestag.
Kamen durch zu viele Direktmandate mehr Abgeordnete ins Parlament als der Zweitstimmenanteil eigentlich zuließ, entstanden sogenannte Überhangmandate. Um diese auszugleichen und das Verhältniswahlrecht zu wahren, wurden Ausgleichsmandate geschaffen – das Parlament wuchs über seine Sollgröße von 598 Sitzen hinaus. Zur Bundestagswahl 2021 etwa hatte der Bundestag 736 Abgeordnete. Zum Vergleich; das Europaparlament fasst in etwa 720 Sitze. Das Repräsentantenhaus in den USA (Vergleichbar mit dem deutschen Bundestag) hat in etwa 435 Abgeordnete. Die „Camera die Deputati“ - die Italienische Abgeordnetenkammer – hat 400 Sitze.
Das immer wachsende deutsche Parlament wurde parteiübergreifend und in der Wissenschaft (vgl. offener Brief der 100 Staatsrechtslehrer, 20.09.2019) als problematisch wahrgenommen. Ein übermäßig großer Bundestag ist unter Berücksichtigung mehrer Gesichtspunkte problematisch: Zum einen verursacht er erhebliche zusätzliche Kosten für Mandatsträger, Personal, Infrastruktur und Verwaltung. Zum anderen leidet darunter die Arbeitsfähigkeit und Effizienz des Parlaments – etwa durch verlängerte Redezeiten, überfüllte Ausschüsse und erschwerte Abstimmungskoordination. Zudem wirkt ein aufgeblähter Bundestag demokratisch entkoppelnd, da er für viele Bürger zunehmend unübersichtlich und intransparent wird. Schließlich untergräbt er auch das Vertrauen in die Politik, wenn der Eindruck entsteht, Mandate würden „überproduziert“, statt an klaren Mehrheiten orientiert zu sein. Es bestand also Handlungsbedarf.
III. Die Reform 2023 – Ziel und Umsetzung
Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetztes (vgl. BGBl. I 2023, Nr. 147 – 13.06.23) wollte der Gesetzgeber diesem Aufblähen ein Ende setzen. Ziel war ein auf 630 Sitze festgelegter Bundestag, unabhängig von Überhang- und Ausgleichsmandaten. Kernpunkte der Reform sind;
- Streichung der Grundmandatsklausel: Parteien, die unter fünf Prozent der Zweitstimmen bleiben, ziehen künftig nicht mehr über gewonnene Direktmandate ins Parlament ein (bis dahin: Drei-Direktmandate genügten für den Einzug).
- Abschaffung der Garantie für Direktmandate: Ein im Wahlkreis gewählter Kandidat erhält nur dann ein Mandat, wenn seiner Partei genügend Zweitstimmen zustehen. Es gilt also: Die Zweitstimme dominiert – auch über die Erststimme.
- Reduzierung des Bundestags auf 630 Sitze: Dies geschieht durch das sogenannte “Zweitstimmenmaß”: Die Parteisitze werden streng proportional zur bundesweiten Zweitstimmenverteilung vergeben. Wenn mehr Direktkandidaten gewählt wurden, als der Partei laut Zweitstimme zustehen, entfallen einzelne Direktmandate.
Es läuft nunmehr also wie folgt ab; Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl eines Wahlkreiskandidaten und die Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die 630 Bundestagssitze (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl (vgl. § 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt (vgl. § 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen Wahlkreisbewerber – also diejenigen mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt (vgl. Zweitstimmendeckungsverfahren, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG).
Parteien, die bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, werden nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt (vgl. 5 %-Sperrklausel § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den Bundestag ein. (Vorerst gekippt bis zur Neuregelung durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 23. und 24.04.2024 – 2 BvF 1/23 Nr. 4)
IV. Das neue Paradoxon: Gewählt, aber nicht im Parlament
Was auf den ersten Blick demokratisch widersinnig klingt, ist inzwischen rechtliche Realität: Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhielten, gehören nicht dem Bundestag an. Der Grund: Ihre Partei erhielt bundesweit zu wenige Zweitstimmen, um das Direktmandat “mittragen” zu können.
Beispiel:
Ein CSU-Kandidat gewinnt seinen Wahlkreis mit 35 % der Stimmen, doch die CSU hat insgesamt nur so viele Zweitstimmen erhalten, dass sie weniger Sitze beanspruchen kann, als sie Direktmandate gewann. In diesem Fall werden die “überschüssigen” Direktmandate – auch wenn sie demokratisch errungen wurden – nicht berücksichtigt. Die Kandidaten gehen trotz gewonnener Wahl leer aus.
V. Rechtliche Bewertung
1. Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG)
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normiert den Grundsatz der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Die Wahlgleichheit bedeutet, dass jede Stimme grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben muss.
Problematisch ist hier die Entwertung der Erststimme: Wenn ein Kandidat gewählt wird, aber wegen unzureichender Zweitstimmen seiner Partei nicht einzieht, könnte dies den Erfolgswert der Erststimme faktisch auf null reduzieren.
2. Verhältniswahl als Leitprinzip
Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung und insbesondere in Entscheidungen über Normenkontrollverfahren, Organklagen und Verfassungsbeschwerden, insbesondere von der Bayerischen Staatsregierung, der damaligen Fraktion „Die Linke“ und der CDU/CSU gegen diese Gesetzesänderung, betont, dass das Grundgesetz eine Verhältniswahl nicht zwingend vorschreibt, diese aber durch das Bundeswahlgesetz festgelegt ist. Daraus folgt: Der Gesetzgeber darf Schwerpunkte setzen – etwa den Vorrang der Zweitstimme (vgl. 2 BvF 1/23 – 2 BvE 9/23 – 2 BvR 1547/23 ff. der gemeinsamen Entscheidung).
Argument des Gesetzgebers hier: Die Zweitstimme stellt die Verhältnisgerechtigkeit sicher. Die Erststimme ist lediglich eine personalisierende Ergänzung – nicht mehr.
VI. Demokratische Legitimation und politische Folgen
Das neue Wahlrecht verfolgt das legitime Ziel, den Bundestag effizienter, kostengünstiger und weniger überdimensioniert zu gestalten. Doch der Preis ist hoch: Die personelle Repräsentation vor Ort wird geschwächt. Bürgerinnen und Bürger erleben, dass ihre direkt gewählten Vertreter keine Stimme im Parlament erhalten – obwohl sie sie mit Mehrheit gewählt haben. Die Kluft zwischen Wählerwille und Parlamentarischer Realität könnte so größer werden.
Gerade in strukturschwachen Regionen, wo Direktkandidaten unabhängig von der Bundespartei stark auftreten, ist dies ein empfindlicher Schlag gegen die Wahlkreisdemokratie.
VII. Fazit
Die Wahlrechtsreform 2023 schafft ein Paradoxon, das die Grundfesten der parlamentarischen Demokratie berührt: Wähler wählen – und ihre Stimme bleibt dennoch folgenlos. Was als notwendiger Schritt zur Verkleinerung des Bundestags begann, mündet in eine kontroverse Debatte über den Wert der Erststimme und die Substanz von demokratischer Repräsentation.
Die Frage “gewählt oder nicht gewählt?” ist längst nicht mehr nur rhetorisch. Sie ist zu einer verfassungsrechtlichen und politischen Schlüsselfrage unserer Zeit geworden.
-ABH
(Dieser Beitrag wurde mit größter Sorgfalt und nach dem Stand der Rechtslage zum 10. April 2025 verfasst. Er dient ausschließlich der allgemeinen Information und stellt keine rechtliche Beratung im Einzelfall dar. Trotz sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung wird keine Haftung für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der enthaltenen Informationen übernommen. Gesetzesänderungen, Rechtsprechungsentwicklungen oder abweichende Auslegungen können die Rechtslage jederzeit verändern. Für verbindliche Auskünfte wenden Sie sich bitte an eine rechtskundige Stelle oder eine anwaltliche Beratung.)
I. Einleitung
Die Bundestagswahl ist das zentrale Instrument demokratischer Repräsentation in Deutschland. Die Bürgerinnen und Bürger bestimmen mit ihrer Stimme, wer in den Bundestag einzieht und damit an der Gesetzgebung der Bundesrepublik mitwirkt. Doch das Wahlsystem ist komplex – zu komplex, wie Kritiker seit Langem bemängeln. Mit der Reform des Bundeswahlrechts 2023 wurden einschneidende Änderungen vorgenommen, um den stetig wachsenden Bundestag zu verkleinern. In der Folge kam es bei der jüngsten Bundestagswahl 2025 zu einem demokratietheoretisch wie verfassungsrechtlich brisanten Phänomen: Direktkandidaten, die ihre Wahlkreise gewannen, zogen dennoch nicht in den Bundestag ein.
II. Das bisherige Wahlsystem – Eine kurze Rekapitulation und das Problem
Nach dem bis 2023 geltenden System war der Bundestag ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Die Wählerinnen und Wähler hatten zwei Stimmen:
1. Die Erststimme für einen Direktkandidaten im Wahlkreis. Wer hier die relative Mehrheit erhielt, gewann das Direktmandat und zog sicher in den Bundestag ein.
2. Die Zweitstimme für eine Landesliste einer Partei. Diese bestimmte die proportionale Sitzverteilung im Bundestag.
Kamen durch zu viele Direktmandate mehr Abgeordnete ins Parlament als der Zweitstimmenanteil eigentlich zuließ, entstanden sogenannte Überhangmandate. Um diese auszugleichen und das Verhältniswahlrecht zu wahren, wurden Ausgleichsmandate geschaffen – das Parlament wuchs über seine Sollgröße von 598 Sitzen hinaus. Zur Bundestagswahl 2021 etwa hatte der Bundestag 736 Abgeordnete. Zum Vergleich; das Europaparlament fasst in etwa 720 Sitze. Das Repräsentantenhaus in den USA (Vergleichbar mit dem deutschen Bundestag) hat in etwa 435 Abgeordnete. Die „Camera die Deputati“ - die Italienische Abgeordnetenkammer – hat 400 Sitze.
Das immer wachsende deutsche Parlament wurde parteiübergreifend und in der Wissenschaft (vgl. offener Brief der 100 Staatsrechtslehrer, 20.09.2019) als problematisch wahrgenommen. Ein übermäßig großer Bundestag ist unter Berücksichtigung mehrer Gesichtspunkte problematisch: Zum einen verursacht er erhebliche zusätzliche Kosten für Mandatsträger, Personal, Infrastruktur und Verwaltung. Zum anderen leidet darunter die Arbeitsfähigkeit und Effizienz des Parlaments – etwa durch verlängerte Redezeiten, überfüllte Ausschüsse und erschwerte Abstimmungskoordination. Zudem wirkt ein aufgeblähter Bundestag demokratisch entkoppelnd, da er für viele Bürger zunehmend unübersichtlich und intransparent wird. Schließlich untergräbt er auch das Vertrauen in die Politik, wenn der Eindruck entsteht, Mandate würden „überproduziert“, statt an klaren Mehrheiten orientiert zu sein. Es bestand also Handlungsbedarf.
III. Die Reform 2023 – Ziel und Umsetzung
Mit dem Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetztes (vgl. BGBl. I 2023, Nr. 147 – 13.06.23) wollte der Gesetzgeber diesem Aufblähen ein Ende setzen. Ziel war ein auf 630 Sitze festgelegter Bundestag, unabhängig von Überhang- und Ausgleichsmandaten. Kernpunkte der Reform sind;
- Streichung der Grundmandatsklausel: Parteien, die unter fünf Prozent der Zweitstimmen bleiben, ziehen künftig nicht mehr über gewonnene Direktmandate ins Parlament ein (bis dahin: Drei-Direktmandate genügten für den Einzug).
- Abschaffung der Garantie für Direktmandate: Ein im Wahlkreis gewählter Kandidat erhält nur dann ein Mandat, wenn seiner Partei genügend Zweitstimmen zustehen. Es gilt also: Die Zweitstimme dominiert – auch über die Erststimme.
- Reduzierung des Bundestags auf 630 Sitze: Dies geschieht durch das sogenannte “Zweitstimmenmaß”: Die Parteisitze werden streng proportional zur bundesweiten Zweitstimmenverteilung vergeben. Wenn mehr Direktkandidaten gewählt wurden, als der Partei laut Zweitstimme zustehen, entfallen einzelne Direktmandate.
Es läuft nunmehr also wie folgt ab; Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl eines Wahlkreiskandidaten und die Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die 630 Bundestagssitze (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl (vgl. § 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt (vgl. § 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen Wahlkreisbewerber – also diejenigen mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt. Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt (vgl. Zweitstimmendeckungsverfahren, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG).
Parteien, die bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, werden nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt (vgl. 5 %-Sperrklausel § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den Bundestag ein. (Vorerst gekippt bis zur Neuregelung durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 23. und 24.04.2024 – 2 BvF 1/23 Nr. 4)
IV. Das neue Paradoxon: Gewählt, aber nicht im Parlament
Was auf den ersten Blick demokratisch widersinnig klingt, ist inzwischen rechtliche Realität: Kandidaten, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhielten, gehören nicht dem Bundestag an. Der Grund: Ihre Partei erhielt bundesweit zu wenige Zweitstimmen, um das Direktmandat “mittragen” zu können.
Beispiel:
Ein CSU-Kandidat gewinnt seinen Wahlkreis mit 35 % der Stimmen, doch die CSU hat insgesamt nur so viele Zweitstimmen erhalten, dass sie weniger Sitze beanspruchen kann, als sie Direktmandate gewann. In diesem Fall werden die “überschüssigen” Direktmandate – auch wenn sie demokratisch errungen wurden – nicht berücksichtigt. Die Kandidaten gehen trotz gewonnener Wahl leer aus.
V. Rechtliche Bewertung
1. Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG)
Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG normiert den Grundsatz der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl. Die Wahlgleichheit bedeutet, dass jede Stimme grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben muss.
Problematisch ist hier die Entwertung der Erststimme: Wenn ein Kandidat gewählt wird, aber wegen unzureichender Zweitstimmen seiner Partei nicht einzieht, könnte dies den Erfolgswert der Erststimme faktisch auf null reduzieren.
2. Verhältniswahl als Leitprinzip
Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung und insbesondere in Entscheidungen über Normenkontrollverfahren, Organklagen und Verfassungsbeschwerden, insbesondere von der Bayerischen Staatsregierung, der damaligen Fraktion „Die Linke“ und der CDU/CSU gegen diese Gesetzesänderung, betont, dass das Grundgesetz eine Verhältniswahl nicht zwingend vorschreibt, diese aber durch das Bundeswahlgesetz festgelegt ist. Daraus folgt: Der Gesetzgeber darf Schwerpunkte setzen – etwa den Vorrang der Zweitstimme (vgl. 2 BvF 1/23 – 2 BvE 9/23 – 2 BvR 1547/23 ff. der gemeinsamen Entscheidung).
Argument des Gesetzgebers hier: Die Zweitstimme stellt die Verhältnisgerechtigkeit sicher. Die Erststimme ist lediglich eine personalisierende Ergänzung – nicht mehr.
VI. Demokratische Legitimation und politische Folgen
Das neue Wahlrecht verfolgt das legitime Ziel, den Bundestag effizienter, kostengünstiger und weniger überdimensioniert zu gestalten. Doch der Preis ist hoch: Die personelle Repräsentation vor Ort wird geschwächt. Bürgerinnen und Bürger erleben, dass ihre direkt gewählten Vertreter keine Stimme im Parlament erhalten – obwohl sie sie mit Mehrheit gewählt haben. Die Kluft zwischen Wählerwille und Parlamentarischer Realität könnte so größer werden.
Gerade in strukturschwachen Regionen, wo Direktkandidaten unabhängig von der Bundespartei stark auftreten, ist dies ein empfindlicher Schlag gegen die Wahlkreisdemokratie.
VII. Fazit
Die Wahlrechtsreform 2023 schafft ein Paradoxon, das die Grundfesten der parlamentarischen Demokratie berührt: Wähler wählen – und ihre Stimme bleibt dennoch folgenlos. Was als notwendiger Schritt zur Verkleinerung des Bundestags begann, mündet in eine kontroverse Debatte über den Wert der Erststimme und die Substanz von demokratischer Repräsentation.
Die Frage “gewählt oder nicht gewählt?” ist längst nicht mehr nur rhetorisch. Sie ist zu einer verfassungsrechtlichen und politischen Schlüsselfrage unserer Zeit geworden.
-ABH
(Dieser Beitrag wurde mit größter Sorgfalt und nach dem Stand der Rechtslage zum 10. April 2025 verfasst. Er dient ausschließlich der allgemeinen Information und stellt keine rechtliche Beratung im Einzelfall dar. Trotz sorgfältiger und gewissenhafter Prüfung wird keine Haftung für die Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität der enthaltenen Informationen übernommen. Gesetzesänderungen, Rechtsprechungsentwicklungen oder abweichende Auslegungen können die Rechtslage jederzeit verändern. Für verbindliche Auskünfte wenden Sie sich bitte an eine rechtskundige Stelle oder eine anwaltliche Beratung.)
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